Trügerische Hoffnung

Seit Stunden irrt Johanna umher, doch sie hat längst auch jedes Gefühl für ihre Umgebung verloren und für die Zeit. Sie glaubte zu schweben, jetzt fühlt sie sich schwer wie Blei. Die Dunkelheit raubte ihr jeden Sinn für eine erfahrbare Wirklichkeit. Die Augen flimmern ihr durch ihr Gehirn, es ist nicht schwarz um sie herum, es irritiert sie mehr als nur die Blindheit einer sternlosen Nacht, es ist ein Blitzlicht, das Stroposkop, das weiße Rauschen, die absolute Leere, ein Nichts, ein vollkommenes Fehlen von Licht und helle Flecken auf der Netzhaut.

Als ihr endlich wieder schwarz vor Augen wird, fühlt sie eine Ruhe in sich aufsteigen, die alles übertrifft, was sie bisher erfahren durfte. Es gab ihr Hoffnung, dieses Licht, das von irgendwoher kam, so schwach, dass sie es nicht sehen konnte, sie konnte noch immer nichts irgendwo sehen, aber es gab etwas zu sehen irgendwo, das wusste sie, irgendwo musste ein Licht sein, das ihre Augen wahrnehmen konnten, und es würde irgendwann heller werden, so dass sie es wirklich sah. Aber das Flimmern hatte aufgehört, vielleicht konnte sie einen Ausgang finden. Von der Finsternis in die Dunkelheit und zurück an den Tag, oder in eine lauwarme Nacht, das war ihr egal, sie wusste noch immer nicht, wie lange sie schon hier unten war, sie wollte wieder einen Himmel fühlen, das rauschen des Windes hören und den Dreck der stetig befahrenen Straßen riechen, die irgendwo, irgendwo da nach Dortmund oder Essen führten. Manchmal spürte sie ein leichtes Beben, wie von einer Eisenbahn, das gab ihr hoffnung, sie ahnte die Zivilisation, sie fühlte sich nichtmehr allein. Eine zeit lang ist sie dem Beben gefolgt, aber es führte sie nur tiefer hinein, und sie wurde eins mit dem schwarzen Gestein.

Es war die schwarze Stadt, es war diese Faszination Bochum, eine Weltstadt am Rande einer sinnlosen Wirklichkeit. Ein Stadt, die sie nie wieder losließ, das schien sie zu spüren, eine Stadt ohne erkennbare Grenzen, doch lange hatte sie diesem Gefühl nicht getraut. Es war wie ein Zufall, der sie hier her brachte, als es geschah, dass sie die Zulassung ihren Händen hielt und zu ihren Eltern rannte und rief gleichermaßen voller Freude, voller Wut auf sich selbst und Entsetzen, Bochum, es ist Bochum, sie konnte sich diese Gefühle nicht erklären, das Herz von Europa, es ist das das Ruhrgebiet, die Ruhr-Metropole, ich gehe ins Ruhrgebiet.

Ja, es war eine Seltsame Welt, die sie hier fand. Seltsam, erschreckend, abstoßend und schön zugleich. Diese Betonwüste, sie war etwas fremdartiges, wie ein Raumschiff, das sich in die letzte noch blühende Landschaft dieser Industriehölle gefressen hatte und nun nichtmehr verschwand. Nein es war nicht nur die Ruhr-Universität, wenn man sie von unten her sah, von den experimentellen Bauernhöfen, war sie fast schön, so fremd, so erschütternd, die Betonwüste aber war eine Landschaft nach Norden und Westen, die nirgends ein Ende fand, eine nicht endene Landschaft aus Lärm, Asphalt und grauem Gestein. Im Osten geht die Sonne auf.

Plakate nennen sie die Kulturhauptstadt, die Metropole im Herzen Europas, Bochum lag irgendwo am Rande, sie machte sich nichts vor. Es würde ein Albtraum werden, in ihrem Empfinden war an diesem Ort wenig Kulturgefühl übrig geblieben, dafür gab es überall diese grauen Gesichter, Gesichter, die so hart schienen, wie der Beton, mit dem sie verwachsen waren und in Symbiose zu leben schienen. Diese Menschen der schwarzen Stadt, sie wollten um jeden Preis glücklich sein.

Sie war Wälder gewöhnt, in denen sie lernte sich tagelang zu verlaufen, da wo sie aufgewachsen war, gab es niedrige Berge, weit ausgedehnte Lichtungen, kaum Industrie aber auch Bergbau. Ja sie fühlte sich durch den Bergbau ein bisschen zuhause, dort wurde Silber abgebaut, hier ist es das schwarze Gold. Alles ist schwarz in dieser Stadt. Man konnte sich in den Bergen verlaufen, ohne dass man sich jemals verloren vorkam, hier fühlte sie sich sofort verloren, Johanna, als sie die ersten schweigenden Schlote von der Ferne her sah. Sie konnte sehr sehr weit sehen, orientierte sich an Bächen und Felsen, an Orten, die ihre eigenen Seelen hatten.

Wie soll man das beschreiben, es gab diese Metamorphosen, die jeder ohne weiteres durchschreiten konnte, sie wusste, dass sie nun in einer anderen Welt war. Hier standen düstere Tannen, da waren es supfige Wiesen, dazwischen standen blutige Buchen, und im Winter versank sie bis zum Kinn tief im Schnee. Dann war alles gleich, dann gab es nirgendwo Grenzen, das Leben dieser Landschaft schien träumend zu schlafen, wie das Märchen in seinem diamantenen Kleid. Diamanten fand sie hier oft, viele kleine Diamanten, es waren ganze Monate, in denen sie grub, wenn der Boden weich und lebendig war, und sie fand unglaubliche Mengen, aber die Steine Waren nichts wert, sie lagen auch so überall, sie sah dieses Glitzern auf Schritt und tritt, große und kleine, es war nicht ein wirklich außergewöhnlicher Fund dabei. Es war oft schwerer einen Ziegel zu finden. Ziegel waren eine Seltenheit. Hier in der schwarzen Stadt braucht man nach roten Ziegeln nicht lange zu graben, die menschne Pflanzen darin ihre Blumen ein. sie würden ebenso kümmerlich wachsen.

Ja sie betrat mit einem schritt zum anderen oft eine andere Welt. In den Wäldern ihrer Kindheit gab es Elfen und kobolde, gab es große Auen und Seen, gab es Himmel von Smaragt, Himmel von Amethyst, Himmel aus Quarz und Himmel so blau, wie die Träume in einem seltenen Jadestein. Die Berge schimmerten grün wie die verbreitete Jade. Nachts, leuchteten sie wie die Augen einer sanften Gestalt - gutmütig und frei.

Hungrig und wild war auch die schwarze Stadt, wie ein kollabierter Stern, sie saugte alles in sich auf, was sie bekam, Menschen aller Kulturen, aller Arten aller Formen und Farben, und alle wurden sie schwarz wie der Stein und kreisten in diesem Feld der Endlichkeit wie sagenhafte Figuren aus einem unerklärlichen Roman.

Sie war schön diese schwarze Stadt, doch das bemerkte Johanna nicht selbst, man musste es ihr sagen und jedesmal, wenn ihr jemand sagte, wie schön diese Schwarze Stadt war, umso mehr begann sie ihr Leben zu lieben.

Es waren drei kurze Sommer an der Ruhr-Universität, hier zählten allein die Sommer. Niemals zuvor hatte sie solch eine graue kälte erlebt und gleichzeitig solch eine Freundlichkeit. Es gab hier echte Menschen, ja es gab sie, sie hatten sich verkrochen in niedrigen Ziegelhäusern, rauchten die schwarze Hand und keuchten und husteten aus und ein. Das waren die echten Menschen hier, goldene Sellen schwebten in ihrer Brust, und sie kannten es gut das Revier, besser als alle die leichten blauen Schwalben, die herflatterten und irgendwie nie wieder von diesem Ort loskommen konnten, immer umhertrieben überall in der Welt und doch traf man sie immer wieder hier wie die Zugvögel zur Paarung. Die Herzen aus Gold waren keine Schwalben, sie waren mit der Erde hier fest verwachsen, sie machten keinen Schritt über die bewaldeten Halden, sie schwammen nicht im Kanal, sie besichtigten nicht die Kokerei oder die Bergwerke, sie haben das alles zu gut gekann zu ihrer zeit, sie begreifen die wirkliche Bergstadt. Und sie wissen auf welchem dünnen Boden sie laufen. Niemand von ihnen würde hier mehr als eine Gartenlaube bauen, sie wohnen auf einer verborgenen Stadt fern fern der Realität dieser leichtfüßigen Menschen, die nur ihre Oberfläche begreifen. Menschen sind sie und Johanna wusste sie würde diese Menschen lieben, vom ersten Moment, so wie ein Kind die Indianer liebt, oder die Dinosaurier mit einem unergründlichen Respekt und einer Faszination, die nirgendwo auf der Welt seines Gleichen hat.

Johanna irrte umher in der Dunkelheit.

langsam tastete sie sich vorwärts, sie hatte wieder ein Gefühl für die zeit, sie wusste vielleicht, wo sie war, sie ahnte, wohin sie ihre Schritte setzte und irgendwann begann sie sogar ein Stückchen zu rennen, ja sie hatte keine Angst, sie Fühlte sich sicher hier, wo es wieder Hoffnung gab, irgendwie kam sie wieder hinaus.

Was geschehen war, wusste sie nicht, sie erwachte im Krankenhaus, und schon am nächsten Morgen wurde sie nach Hause entlassen. Zu Hause, das war hier an der Uni ein Wohnheim, da war sie zufällig gerade allein, als sie den Flur betrat und ging sofort in ihr Zimmer.

Ruhr-Uni, die Sonne brannte auf diesem Beton und die Bodenplatten klapperten in einem seltsamen Takt, der Blick reichte weit über das Tal und die Berge, es schien ihr fast als sei sie zu Hause, als sie über das Achterdeck schlenderte hinter der Mensa und dabei ihr süßes Liedchen pfiff. Da waren sie die unendlichen Wälder, da war der Himmel voller Unendlichkeit und da war NA und die Mathematik wie ein Fels, dort war der Geruch nach Beton besonders stark in den Wogen der Wissenschaft zum Tragen gekommen. Und sie brandeten auf den ersten Block und seinem grünlichen Licht und bildeten wilde Strudel. Sie musste sich abwenden, der Wind war hier kalt und unerbittlich scharf.

Da war GA, ein gelber Block aus Vanille und Schokolade mit einem gewaltigen Kreuz darüber. Es war das Kreuz einer Spinne, und diese Spinne nannte sich Evangelische Theologie. Ihre Fäden sind zart, und hier und da fliegen sie leicht über den Campus und fangen sie ein, die ebenso leichten. Es war gerade ein herrlicher Sommertag, einer von den wenigen, die sie hier kannte, denn der Regen beherrschte die meiste Zeit den ausdruck der starren Gesichtet.

Jetzt schien das alles vergessen zu sein, und doch blieben die Schritte hektisch und kalt. In den tiefen Hölen der Hörsäle flimmerte es ihr wieder vor Augen, aber diesmal war es keine Finsternis, es war das Neonlicht. Sie hörte Linguistik und fragte sich, was wohl finsterer war, dieser farblose Saal, von dessen Wänden bestimmt schon der Putz rieselte, wenn es hier jemals welchen gegeben hätte, oder die Katakomben der schwarzen Stadt, in denen sie ihre Unendlichkeit fand.

Wieder flimmerte es stärker vor ihren Augen, und der Hörsal verschwand, und wieder wurde alles dunkel um sie.

Sie schwebte irgendwo und drehte sich leicht, dann zerriss ein helles Bild und flackerte auf, was folgte war Leere.

Wo bin ich, wer bin ich, was bin ich, was ist das, sie bewegte ihre Hand und versuchte etwas aus ihrem Gesicht zu streichen, es kitzelte leicht, dann war es verschwunden, es kitzelte wieder.

Hey, Johanna! Sie schreckte auf, ihre Nachbarin hatte sie mit einer kleinen Feder geärgert. Nicht schlafen, sagte sie, es ist doch die erste Vorlesung dieses Semester, pass gut auf, sonst verpast Du noch was, wir wechseln den Raum, dieser hier ist zu klein. Johanna schaute auf, es mussten noch einige etwas später gekommen sein, die Sitzreihen waren voll, sie saß in der letzten Reihe, hinter ihr waren noch Stühle aufgestellt und die auf den Treppen saßen, machten sich breit als wollten sie der Professorin keinen Weg gestatten aus dieser Höhle, und standen nicht eher auf, bis alle, die noch keine Platz gefunden hatten, ebenfalls Hoffnung hatten irgendwo ihren Kopf und ihre Ellbogen ablegen zu können. Keiner kommt hier raus, solange wir auf den Treppen sitzen! Es erhob sich leichtes Geschrei und verursachte ein Durcheinander von Stimmen und klappernden Bänken und Füßen. Manche kramten in ihren Taschen und versuchten so schnell wie möglich die Sonne zu erreichen, doch es war zu spät. Protestrufe!

An den beiden möglichen Ausgängen waren plötzlich weitere Studierende erschienen, diese aber hatten sicherlich kein Interesse an der Vorlesung. Die Professorin rief einen Namen und schimpfte, dass solche Leute nicht an diese Universität gehörten. Sie sind ja garkein richtiger Student, sprach sie direkt einen an, gehn sie, wir haben hier eine Vorlesung. Das Auditorium lachte, und nun lockerte sich der Unmut unter den Zuhörern und ein noch lauteres Geschnatter setzte ein. Johanna musste auch lachen. Das war ja ein wunderbarer Start ins neue Semester. Wir bemühen uns schon um einen neuen Raum, bitte verlassen sie die Gänge, wir sind bereits fünfzehn Minuten über der Zeit! Die Professorin rötete sich leicht.

Aber nach und nach löste sich der Tumult auf, und die älteren Studierenden signalisierten, dass sie es doch nicht so ernst gemeint hatten.

(Johanna)

Die zeit in der Flimmerhöle war vorbei, wir versammelten uns draußen auf den Treppen und rauchten, obwohl wir wussten, dass wir danach nichtmehr klar denken konnten, gelben Tabak ohne Pause.

Es kam nicht so drauf an. Du möchtest Reden, Du möchtest schweigen, ich möchte Virginia rauchen.

Es war doch das erste Semester, die Welt hatte noch Zeit, und das Kapital in unseren Köpfen. Wer mochte es brauchen? Es galt sorgsam herauszufinden welcher Idealismus eigentlich in diesen Büchern verbreitet wurde, die wir bekamen, und was aus uns werden sollte. Im Grunde hatten wir nie die Zeit darüber nachzudenken. Mochten wir denn nun alles sein oder eigene Persönlichkeiten? Ich möchte erstmal Virginia rauchen und ein klein wenig verblöden, damit es nachher nicht zu steil bergauf gehe, und ich vielleicht dann nicht merke, dass ich von den falschen Kräften gebraucht werde. Hast Du mal Feuer? Gib mal ein Blättchen.. Du rauchst ja auch Virginia! Ja, ist es der Geist der Freiheit, oder ist es der Geist einer Elite? Es ist der teuerste Tabak, den es hier gibt, und er qualmt genau richtig.

Vielleicht sind die Wissenschaften nicht so wichtig wie Menschlichkeit. Sie alle denken nur an Ruhm und Erfolg, aber was wird aus den ganzen Forschungen werden?

Ihr möchtet also studieren?

Da sieh die Naturforscher, wie sie alles rechtfertigen für die Gesundheit und den Wohlstand des Menschen, aber haben sie jemals das Herz eines Menschen gerettet, der ihre Arbeit nicht bezahlen konnte?

Und sieh, die Professoren und Pädagogen, wie sie sich einsetzen für Verantwortung, Freiheit und Demokaratie, aber bevor sie anfingen selbst Verantwortung zu tragen, haben sie erstmal die Höhe des Anteils ihrer Gebühren geprüft und autoritär den Hörsaal betreten.

Aber lassen wir das, ich kenne sie vielleicht irgendwann alle, ich möchte Virginia rauchen und sehen, was noch alles passiert.

Wenn ihre absichten wirklich gut währen, würde ich gerne mit ihnen zusammen arbeiten, aber ich ahne, dass viele hier keine echten Wissenschaftler sind, nichteinmal richtige Geschäftsleute.